* 42 *

42. Die Benennung
Schädel

Das Gerippe richtete sich unsicher auf und blieb schwankend stehen, wie um sein Gleichgewicht zu finden, dann stakste es los wie eine hässliche Marionette, direkt auf Marcia zu.

Marcia erbleichte, bewahrte aber die Fassung. Sie wich langsam vor dem Gerippe zurück und überlegte fieberhaft.

Alther beobachtete Marcias Schatten, und was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Schatten war nicht mehr das krumme, formlose Ding, das ihr seit einem Jahr durch alle Zimmer nachgegangen war. Er war nun beinahe wie ein körperliches Wesen – er stand hoch aufgerichtet neben Marcia, und seine mattgelben Augen leuchteten vor Erregung. Er wartete.

»Ellis Crackle!«, stieß Alther hervor. Der Schatten schaute auf.

»Machen Sie Witze, Alther?«, raunzte Marcia.

»Ihr Schatten, Marcia. Das ist Ellis Crackle!«

»Im Moment ist es mir völlig egal, wer der Schatten ist.« Marcia stieg rückwärts über ein zerfetztes Kissen. Das Gerippe folgte ihr klappernd. Marcia trat noch einen Schritt zurück. Das Gerippe noch einen nach vorn.

»Um Himmels willen, Alther, jetzt wird es ernst«, sagte Marcia, und in ihrer Stimme schwang aufkommende Panik.

»Ich weiß«, erwiderte Alther ruhig. »Es gibt nur einen Ausweg.«

Marcia trat abermals einen Schritt zurück. Das Gerippe abermals einen Schritt vor.

»Sie müssen es benennen«, drängte Alther, der neben Marcia schwebte.

»Wie denn, Alther? Ich weiß ja nicht, wer es ist.«

Aber Jenna wusste es. Beim Zusammensetzen des Skeletts hatte sie alles gründlich durchdacht. »Es ist DomDaniel«, sagte sie. »Er muss es sein.«

Marcia blickte kurz zu Jenna hinüber. »Was sagst du?«

Jenna sah nur Marcia an und nicht den grinsenden Schädel, der sie im Observatorium aus leeren Augenhöhlen beobachtet hatte. Sein Anblick war ihr unerträglich. »Es ... es muss DomDaniel sein. Simon hatte seinen Schädel, aber nicht seine Knochen. Aber er behauptete, er hätte das vollständige Gerippe in den Marschen gefunden. Ich habe mich gefragt, wo der Rest ist...«

»Bist du sicher, Prinzessin?«, fragte Alther ruhig.

»Ja«, antwortete sie. »Ja, ganz sicher.«

Marcia zauderte. »Aber er könnte es auch nicht sein«, murmelte sie vor sich hin. »Vielleicht ist es nur ein Bluff ... ich möchte sogar wetten, dass es ein Bluff ist ... so etwas würde ihm ähnlich sehen, einen armen Seemann von seinem grässlichen Schiff dafür zu benutzen ... aber es könnte auch ein doppelter Bluff sein, und er ist es tatsächlich ... so was macht er am liebsten selbst... Oh, Alther!«

»Vertrauen Sie Jenna. Benennen Sie ihn, Marcia, sofort!«, sagte Alther in einem belehrenden Ton, als wäre Marcia noch sein Lehrling.

Das Skelett hatte sich Marcia fast auf Armeslänge genähert und streckte jetzt die Hand nach ihr aus. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Wenn ich es falsch benenne«, wisperte sie, »ist es um mich geschehen, Alther.«

»Marcia, Sie haben nichts zu verlieren. Wenn es Sie berührt, ist es ohnehin um Sie geschehen.«

Das Gerippe machte einen großen Schritt vor.

Marcia einen entsprechenden Schritt zurück. Weiter zurück konnte sie nicht, denn sie stand mit dem Rücken an der dicken lila Tür. Sie schnippte mit den Fingern, ein lautes Klacken ertönte – zwei silberne Riegel glitten aus der Wand, und ein leises Surren verriet, dass die Tür sich selbst abschloss. Marcia lächelte grimmig. Jetzt war zumindest der übrige Zaubererturm vor möglichen Schäden durch die Platzierung geschützt. Sie lehnte sich gegen die Tür, um sich abzustützen, und dann tat sie, was getan werden musste. Ein lila Dunst aus mächtiger Magie hüllte die Außergewöhnliche Zauberin ein, brachte ihre tiefgrünen Augen zum Leuchten und ihren langen lila Mantel zum Flimmern.

Das Gerippe setzte zum Sprung an, doch Marcia hob die Hand und rief: »Ich benenne!«

Das Gerippe hielt abrupt inne, bedachte sie mit einem spöttischen Blick, soweit ein leerer Schädel dazu in der Lage ist, verschränkte die Arme und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Na los, schien es zu sagen, überrasche mich, worauf wartest du?

Marcia war verblüfft. »Alther«, sagte sie mit eindringlicher Stimme, »es weiß, was ich sagen will, und ist trotzdem kein bisschen beunruhigt. Jenna muss sich irren.«

»Es blufft nur«, erwiderte Alther, und er klang viel zuversichtlicher, als er in Wirklichkeit war.

Marcia war nicht überzeugt. Ein mattes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Kümmern Sie sich um Septimus, Alther. In einem Jahr und einem Tag werde ich zurück sein und mich davon überzeugen.«

»Versprochen. Und jetzt tun Sie’s.«

Marcia hob den Arm und zeigte auf das Gerippe. Dann holte sie tief Luft und sagte mit leiser, monotoner Stimme:

»Hand aufs Herz. Und Aug in Aug, Dein Name ist...«

Marcia stockte einen Moment und blickte liebevoll zu Septimus, Jenna, Alther und sogar Beetle, denn möglicherweise sah sie die vier zum letzten Mal als lebender Mensch.

»... DomDaniel!«

Ein gellender Schrei zerriss die Luft.

Jenna hielt vor Schreck den Atem an, überzeugt, dass Marcia geschrien hatte. Der Schrei hörte nicht auf, sondern erfüllte den Raum wie das Heulen und Kreischen einer Todesfee. Beetle konnte es nicht ertragen. Er warf sich zu Boden und vergrub den Kopf unter einem Kissen. Jenna hielt sich die Ohren zu, aber Septimus hörte genau hin. Er sperrte Augen und Ohren auf, denn er wollte die mächtigste Magie, die er je erlebt hatte, sehen, wollte sie hören, wollte sie spüren, aber vor allem wollte er an ihr teilhaben.

Er trat einen Schritt auf Marcia zu.

Den lila Zaubermantel zu ihrem Schutz fest um sich geschlungen, stemmte sich Marcia mit dem Rücken gegen die Tür. Vor ihr stand das Gerippe und griff mit seinen Knochenfingern nach dem Echnaton-Amulett an ihrem Hals. Septimus sah, wie der lila Nebel dichter und dunkler wurde und die Umrisse Marcias und des Gerippes darin verschwammen.

Alther schüttelte besorgt den Kopf. Dieser anhaltende Schrei. Hier stimmte etwas nicht. Die Benennung funktionierte nicht so, wie sie sollte.

Septimus erreichte den lila Nebel.

»Nicht!«, brüllte Alther gegen das schreckliche Kreischen an. »Bleib zurück, Septimus. Das ist hochgefährliche Magie!«

Septimus hörte nicht hin. Das Kreischen wurde unerträglich laut, und er trat in den magischen Nebel – und in eine Welt der Stille und Langsamkeit. Er gewahrte, dass Marcia ihn gesehen hatte. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam aus ihrem Mund, und sie hob die Hand, wie um ihn davon abzuhalten, noch näher zu kommen.

Septimus stand im magischen Kraftfeld und versuchte zu verstehen, was vor sich ging. Jetzt konnte er sehen, wie DomDaniels Gestalt um das Gerippe herum erschien. Er erkannte den kurzen Zylinder des Schwarzkünstlers, sein zotteliges Haar und seinen langen schwarzen Mantel. Und seine dicken Hände griffen noch immer nach dem Amulett. Marcia hatte ihn richtig benannt, und trotzdem funktionierte es nicht! Und dann begriff er. Marcia hatte zwei Gegner.

Jetzt sah er, was Alther gesehen hatte. Der Schatten war keine formlose Gestalt mehr, sondern ein grimmig aussehender junger Mann mit gelben Augen, der die Zähne zu einem fratzenhaften Grinsen entblößte. Ellis Crackle, der einstige Lehrling DomDaniels, stand neben Marcia und hob die Wirkung der Benennung auf.

Wie unter Wasser watete Septimus durch den magischen Nebel auf Marcia zu. Er sah, wie Ellis Crackle die Hand ausstreckte, um ihn wegzustoßen, und er wusste, dass es jetzt Lehrling gegen Lehrling hieß. Er hob die Hand. Ihre Hände berührten sich, und er spürte die Kälte des Schattens. Er sah Ellis Crackle in die Augen, und dieser erwiderte seinen Blick, Gelb gegen Grün. Er konzentrierte sich fest, und langsam, ganz langsam ließ er den unglücklichen Ellis Crackle erstarren.

Plötzlich sahen Alther, Jenna und Beetle, wie Ellis Crackle aus dem lila Nebelknäuel herausgeschleudert wurde, umhüllt von schwarzem Rauch durch den Raum wirbelte und verzweifelt nach dem Ausgang suchte. Alther wünschte sich nichts mehr, als dass der Schatten von Marcia wich, und so tat er etwas, was er nicht oft tat – er ließ etwas geschehen. Ein Luftzug fegte durch den Raum, das größte Fenster sprang auf, und der Schatten Ellis Crackles flog hinaus und verflüchtigte sich in der klaren Sommerluft.

Das helle Licht blendete Jenna nach der Dunkelheit im Zimmer, und es dauerte eine Weile, bis sie die menschliche Gestalt bemerkte, die sich vor dem Fenster gegen die Sonne abzeichnete. Auf einer breiten Holzplattform, die vom Fenstersims nach draußen ragte, balancierte unsicher Simon Heap.

Alther bewirkte, dass das Fenster zuknallte, doch Simon stieß es wieder auf und sprang ins Zimmer. Jenna flüchtete, und Beetle, der eben erst wieder unter dem Kissen hervorgekrochen war, legte schützend den Arm um sie. Aber diesmal galt Simons Interesse nicht Jenna, sondern dem Gerippe.

Seit Ellis Crackles Entschwinden lichtete sich der magische Nebel, und drei Gestalten wurden sichtbar, von denen eine – die Hand noch immer nach Marcias Hals ausgestreckt – sich rasch auflöste.

Simon stürzte zu der zerfallenden Gestalt. »Hier bin ich, Meister!«, rief er. »Ihr neuer Lehrling ist hier!«

Simon brannte so darauf, DomDaniels Lehrling zu werden, dass ihm im ersten Moment gar nicht auffiel, dass Marcia noch am Leben war und die Platzierung nicht wie geplant geklappt hatte. Erst als er die letzten magischen lila Schleier erreichte, blieb er abrupt stehen, und ein Ausdruck der Bestürzung legte sich auf sein Gesicht.

DomDaniel sah nicht gut aus. Ja, er sah schlimmer aus, als Simon ihn jemals gesehen hatte, schlimmer noch als bei ihrer ersten Begegnung, als das schlammverschmierte Knochengerüst zu ihm ins Boot geklettert war. Von Braunlingen abgenagte Knochen waren wenigstens verhältnismäßig sauber und ordentlich. Sie zerschmolzen nicht zu einer ekligen Pampe, und sie gaben kein widerliches Glucksen von sich.

»Ihr ... Ihr neuer Lehrling ist hier ... M... Meister«, stammelte Simon, der plötzlich bemerkte, dass Marcia und Septimus direkt vor ihm standen. Marcia hielt Septimus am Arm fest. Ihre Gesichter waren kreidebleich und blickten mit einer Mischung aus Abscheu und Erleichterung auf DomDaniel, der in sich zusammensackte und zu einer Pfütze auf dem Fußboden zerrann. Endlich wirkte die Benennung.

Simon begriff, dass es um ihre Sache nicht zum Besten stand.

Ein tiefes, gespenstisches Lachen erfüllte den Raum. »Du bist nicht mein Lehrling, du Narr. Ich bitte dich, das Königsbalg zu beseitigen – eine leichte Aufgabe –, und was geschieht? Sie entwischt dir dreimal, und dann kommt sie auch noch hierher und spielt mit meinen Knochen herum! Setzt mich auf dem Teppich zusammen wie ein Puzzle für Kinder. Und schuld daran bist ganz allein du, du verfluchter Heap. Ich hätte dich niemals zu meinem Lehrling gemacht. Ein Laufbursche warst du, mehr nicht. Mein Lehrling war die ganze Zeit hier – als Schatten ... Schatten ... Schatten ...« DomDaniels Stimme verklang. Eine stinkende schwarze Brühe breitete sich auf dem Boden aus und schwappte um Simons Stiefel.

»Du Teufel!«, brüllte Simon. »Du falscher Hund! Nach allem, was ich für dich und deine widerlichen Knochen getan habe. Du hast es mir versprochen!« Wie ein Kind, das durch einen Laubhaufen stapft, trampelte er wütend durch die Pfütze, die alles war, was von DomDaniel blieb. Die Brühe spritzte nach allen Seiten.

»Hör auf damit!«, schrie Marcia. »Raus hier, Simon, oder muss ich nachhelfen?«

Simon wich zurück. »Keine Sorge, ich gehe. Ich habe hier sowieso nichts verloren, unter all diesen Hochstaplern.« Er hielt inne und sah Septimus hasserfüllt an. »Aber so leicht werdet ihr mich nicht los. Man hat mir versprochen, dass ich Lehrling werde. Und das werde ich auch. Jawohl!«

Er stürzte zum Fenster, riss es auf und kletterte auf den breiten Fenstersims. Einen Augenblick lang stand er da und nahm seinen Mut zusammen, dann sprang er ab, ohne sich groß darum zu kümmern, ob der Flug-Charm auch funktionierte – alle seine Pläne waren dahin, zunichte gemacht. Doch der Charm begann zu wirken, als er in die Tiefe stürzte, und während er wackelig über den Hof des Zaubererturms segelte (zum Erstaunen einer Gruppe Gewöhnlicher Zauberer, die soeben von einem Einkaufsbummel zurückkamen), da begriff er, dass ihm jetzt nur noch eines blieb – Rache.

Oben in Marcias Zimmer glitten die beiden Silberriegel mit einem schnappenden Geräusch zurück. Und während die große lila Tür sich unter leisem Surren wieder aufschloss, war ein leises Klopfen zu vernehmen.

»Verzeihung«, ertönte Catchpoles Stimme zaghaft von der anderen Seite der Tür, »äh ... ist da drin alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«

Septimus Heap 02 - Flyte
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